Aus Charlottas Zimmer hört man eine leise flüsternde Stimme. „Was macht sie nur?“, fragen sich die Eltern, die vor der Tür stehen und ihrer kleinen Tochter “Gute Nacht“ sagen wollen. Ja, was macht Charlotta?
Charlotta liegt in ihrem Bett und versucht, eine Geschichte aus ihrem neuen Gute-Nacht-Buch zu lesen, das sie am Vortag geschenkt bekommen hat. Das Problem jedoch ist, aber pssst, ihr dürft es nicht verraten: Charlotta kann eigentlich noch gar nicht richtig lesen. Sie kennt zwar schon ein paar Buchstaben aus dem Alphabet, aber eben alle noch nicht. Und deshalb klappt das mit dem Lesen auch noch nicht ganz so gut!
„Na, soll ich Dir etwas vorlesen?“, fragt Charlottas Mama, als sie sieht, dass ihre kleine Tochter das neue Geschichten-Buch in ihren Händen hält. „Nein“, antwortet Charlotta entschlossen und blättert dabei rasch noch einmal durch die einzelnen Seiten. „Ich glaube, das schaffe ich ganz allein!“
Was ihr nicht wissen könnt: Bis vor wenigen Tagen noch hat Charlottas Oma ihrer Enkelin jeden Abend kurz vor dem Schlafengehen eine Geschichte vorgelesen oder erzählt. Manche davon haben Charlotta so gut gefallen, dass ihre Oma sie wieder und wieder vorlesen oder erzählen musste. So oft, dass Charlotta einige der Geschichten oder Märchen sogar schon komplett auswendig aufsagen kann.
Aber vor einigen Tagen hat Charlottas Oma wohl ihre Brille verlegt. Jedenfalls ist sie nicht mehr auffindbar. Und ohne die Brille kann Charlottas Oma halt nicht mehr so gut sehen und deshalb auch nicht mehr vorlesen. Tja, und was das Erzählen angeht … auch das klappt gar nicht mehr so gut. Denn neuerdings scheinen sich die Geschichten von Charlottas Oma einfach zu verselbstständigen. So kann es passieren, dass sie von Hänsel und Gretel erzählt, die von dem gestiefelten Kater gefangen genommen werden. Und dann befreien plötzlich Schneewittchen und die sieben Zwerge die beiden. Nein, natürlich nicht aus dem Haus der bösen Hexe, sondern aus dem Brunnen des Froschkönigs.
Ganz ehrlich? So durcheinander gewürfelt mag auch Charlotta die Geschichten nicht. Und genau deshalb hat sie sich fest vorgenommen, nun ganz schnell richtig lesen zu lernen. Denn dann muss ihr niemand mehr vorlesen, und die Geschichten geraten auch ganz bestimmt nicht mehr durcheinander.
Mittlerweile kommt die Oma also abends nur noch in Charlottas Zimmer, um ihr einen Augen-Augen-Nase-Mund-Kuss zu geben, wie sie es schon immer getan hat.
„Soll ich Dir wirklich nichts vorlesen?“, fragt Charlottas Mutter noch einmal ihre in Gedanken versunkene Tochter. „Nein, Mama, wirklich nicht! Ich schaffe das schon!“
Charlottas Eltern lachen und wünschen ihrer kleinen Tochter wunderschöne Träume und versprechen, der Oma noch einmal Beschied zu sagen, damit sie nicht vergisst, Charlotta ihren einzigartigen Gute-Nacht-Kuss zu geben.
Charlotta seufzt. Sie würde so gerne jetzt schon richtig lesen können. Plötzlich kommt ihr eine Idee. Sie lauscht den Schritten ihrer Eltern auf der Treppe und wartet, bis sie hört, dass die beiden wieder unten im Wohnzimmer angekommen sind. Dann springt Charlotta schnell aus ihrem Bett und läuft aus ihrem Zimmer über den Flur in das Schlafzimmer ihrer Eltern. Zuerst nimmt Charlotta den großen gelben Strohhut von der Wandgarderobe und setzt ihn sich auf den Kopf. Dann zieht sie aus der Kommode einen roten, dünnen Seidenschal und wickelt ihn um ihren Hals. Nun sucht sie noch nach den grünen Schuhen, die diesen furchtbar hohen Absatz haben.
Nachdem sie alles gefunden hat, läuft Charlotta ganz schnell und vor allem ganz leise zurück in ihr Kinderzimmer, zieht ihren Schlafanzug aus und stattdessen das gelbe Sommerkleid an, das ihr die Oma genäht hat. Zufrieden betrachtet sich Charlotta in ihrem kleinen Spiegel. Aber irgendetwas fehlt noch. Charlotta dreht sich hin und her. „Was kann es nur sein?“, überlegt sie fieberhaft. Und plötzlich weiß sie es: „Die Brille, es ist die Bille, die fehlt!“, freut Charlotta sich und kniet sich schnell vor ihr kleines Nachttischchen, um ihre alte, grüne Mickey Mouse-Sonnenbrille zu suchen. Denn eine richtige Brille hat Charlotta nicht.
Endlich findet sie die Sonnenbrille und setzt sie sich ganz vorne auf die Nasenspitze. Zufrieden betrachtet sich Charlotta noch einmal in ihrem Spiegel. Ja, jetzt sieht sie aus wie ihre Oma. Sie nimmt ihre Babypuppe aus dem Puppenwagen, legt sie in ihr Bett, in dem Charlotta eigentlich längst und vor allem noch immer selbst liegen sollte, deckt die Puppe liebevoll zu und gibt ihr einen Augen-Augen-Nase-Mund-Kuss. Genau so, wie es sonst die Oma immer bei Charlotta macht. Dann dreht sich Charlotta zu ihrem Bücherregal, denn sie braucht jetzt natürlich eine andere Geschichte. Eine, die sie schon auswendig kann. Die Geschichte ist schnell gefunden und so lässt sich Charlotta gemütlich in ihrem Schaukelstuhl nieder und beginnt, ihrer Babypuppe die Geschichte vorzulesen. Na ja, eigentlich erzählt Charlotta ihr die Geschichte, aber das weiß ja keiner ….
Charlotta ist so vertieft und konzentriert, dass sie gar nicht merkt, wie ihre Oma ins Zimmer kommt. Doch auch wenn Charlottas Oma ohne Brille nicht ganz so gut sehen kann, so erkennt sie doch, was Charlotta da gerade spielt.
„Ja, wen sehe ich denn da im Schaukelstuhl?“, fragt die Oma deshalb lachend. „Jetzt spielen mir meine Augen anscheinend wirklich einen Streich. Ich sehe ja mich selber!“
„Ja, heute bin ich einmal die Oma, und es ist jetzt wirklich Zeit für Dich, schlafen zu gehen, Charlotta!“, antwortet Charlotta, die einfach weiter ihre eigene Oma spielt.
„Aber dann musst Du mir noch eine Geschichte vorlesen, sonst kann ich doch nicht schlafen!“, antwortet die Oma, die sofort in die Rolle ihrer Enkeltochter schlüpft.
„Na gut, dann aber jetzt ganz schnell ab ins Bett mit Dir, denn sonst wird es fürs Vorlesen zu spät!“, freut sich Charlotta.
Die Oma gehorcht, schupst die Babypuppe ein wenig zur Seite und kuschelt sich dann in Charlottas viel zu kleines Kinderbett. Charlotta deckt ihre Oma zu und streicht ihr noch einmal liebevoll über das Haar, so wie es die Oma sonst immer bei ihr macht. Dann setzt sie sich wieder in den Schaukelstuhl und fängt an, ihre Lieblingsgeschichte zu erzählen.
„Och, noch mal“, bettelt Charlottas Oma, als Charlotta die Geschichte gerade zu Ende erzählt hat. Und Charlotta lacht, denn sie weiß, dass sie das bis vor kurzem immer genauso gemacht hat. Also erzählt sie die Geschichte noch einmal von vorne.
Doch langsam wird auch Charlotta müde. „Oma, ich mag jetzt nicht mehr vorlesen, Du musst jetzt wieder in Dein eigenes Bett!“, sagt sie deshalb als sie vor lauter Müdigkeit kaum noch die Augen offen halten kann. Doch Charlottas Oma antwortet nicht.
Und jetzt erst hört Charlotta das gleichmäßige Schnarchen, das aus ihrem Bett kommt. Leise steht sie auf und schleicht sich an ihre Oma heran. Ganz vorsichtig streicht sie ihr noch einmal eine der glänzend grauen Haarsträhnen aus dem Gesicht und gibt ihr dann sanft einen Kuss – zuerst auf das linke Augenlid, dann auf das rechte, danach auf die Nasenspitze und schließlich noch einen klitzekleinen und vorsichtigen Kuss auf den Mund. Den unverwechselbaren Augen-Augen-Nase-Mund-Kuss, den Charlotta sonst immer von ihrer Oma bekommt.
Dann zieht Charlotta leise den Schlafsack unter ihrem Bett hervor, setzt noch schnell den Strohhut ab und kuschelt sich dann tief in ihren Schlafsack hinein. Noch bevor sie zu Ende überlegen kann, welche Geschichte sie ihrer Oma wohl am nächsten Tag vorlesen könnte, ist Charlotta auch schon eingeschlafen.
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