Immer wieder tauchen neue Modediagnosen auf – zunächst war es ADHS, das lange als eingebildet oder schlicht Erziehungsfehler galt. Nun sind es die Themen hochsensibel oder High-Need-Babys, die, allem Anschein nach überforderte, Mamas und Papas sich schlicht einzubilden scheinen. Was genau ist eigentlich ein High-Need-Baby? Existieren diese extrem anstrengenden kleinen Menschen wirklich oder sind sie nur der Fantasie überforderter Eltern geschuldet?
Ist mein Kind ein High-Need-Baby?
Sie haben die anstrengende Geburt oder den Kaiserschnitt gemeistert und sind noch immer im Rausch der Gefühle. Ihr kleiner Schatz schläft selig in seinem Beistellbettchen, genau so, wie es von der Hebamme oder dem Kinderarzt geraten wurde. Das Stillen klappte in den ersten Stunden gut. Sie und Ihr Partner sind die glücklichsten Menschen, die man sich vorstellen kann.
Wenige Stunden später – Ihr Neugeborenes schreckt beim kleinsten Geräusch auf, schreit viel, lässt sich nicht mehr ablegen. Schlafen geht nur noch ganz dicht bei Mama. Ein Beistellbett? Wer braucht das schon? Das Stillen wird zum Marathon, die Brustwarzen immer wunder, die Nerven zusehends dünner- Eltern am Rande des Nervenzusammenbruchs. Was ist passiert? Hatten Sie nicht eben noch ein sogenanntes Anfängerbaby?
Nein. Das Neugeborene war einfach noch sehr erschöpft von der Geburt und hat deshalb so tief und selig geschlafen. Nun gewinnt es zusehends an Kraft und seine wahre Natur kommt zum Vorschein. Es reagiert extrem sensibel auf Reize, hat einen oberflächlichen Schlaf und nimmt körperliche Symptome scheinbar stärker wahr als andere Babys. Die Brust ist der einzige Beruhigungssauger, den es nimmt – und das lange und ausgiebig.
Herzlichen willkommen im Alltag mit einem High-Need-Baby!
Gibt es Kriterien für High-Need-Kinder?
Das Wort High-Need-Baby wurde vom amerikanischen Kinderarzt Dr. William Sears geprägt. Dieser hatte bereits drei recht pflegeleichte Exemplare und konnte nicht verstehen, warum gestresste Elternpaare jammernd in seiner Praxis saßen und ihm erzählten, wie anstrengend ihr Kind sei. Bis Sears´ Nachwuchs Nummer vier geboren wurde, seine erste Tochter – und sein erstes High-Need-Baby. Dies änderte alles.
Innerhalb mehrerer Wochen waren er und seine Frau am Ende ihrer Kräfte, was den Arzt dazu veranlasste, den Charakter mehrerer tausend kleiner Menschen zu erforschen, um herauszufinden, ob es wirklich von Anfang an Unterschiede im Verhalten gab. Er stieß auf ein interessantes Phänomen: Die meisten konnten als pflegeleicht oder relativ pflegeleicht eingestuft werden. Doch hin und wieder gab es einen richtigen kleinen Charakterkopf, der es Mama und Papa besonders schwer machte. Nach diesen Forschungen entwickelte Dr. Sears zwölf Kriterien, anhand deren man diese besonderen kleinen Menschen, die er High-Need-Babys nannte, erkennen konnte:
High-Need-Kinder: Die 12 Kriterien nach Dr. Sears
- Sehr intensives Weinen, fordernder und extremer als bei anderen Babys
- Extrem aktives Verhalten, ständiges Zappeln, ohne ADHS zu haben
- Sehr forderndes Wesen, die Eltern sind bereits nach kurzer Zeit am Ende ihrer Kraft
- Ständiger Hunger, ständiges Trinken an der Brust, scheinbar unendliches Saugbedürfnis
- Ständiges Bedürfnis nach Nähe und Aufmerksamkeit und fehlende Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub
- Dauerndes nächtliches Aufwachen, zum Teil alle paar Minuten
- Ständige Unzufriedenheit auch bei Aufmerksamkeit durch die Eltern
- Unberechenbares Verhalten bei der Bedürfnisbefriedigung. Was heute noch funktioniert, beispielsweise das Tragen, kann morgen komplett falsch sein
- Extreme Sensibilität, hohe Geräuschempfindlichkeit, ständige Reizüberflutung
- Hasst das Ablegen und möchte stets getragen werden
- Fehlende Fähigkeit zur Selbstberuhigung, auch nach mehreren Monaten noch
- Starkes Fremdeln, schwierige Eingewöhnung in der Kita und hohe Trennungsangst
Manche dieser Kriterien treffen phasenweise auch auf andere Babys zu, jedoch bei einem High Need Baby sind die oben genannten Bedürfnisse wirklich extrem.
High-Need-Baby und Schreibaby – was ist der Unterschied?
Zwischen Bezeichnungen wie hochsensibel, Schreibaby und auch High-Need-Baby gibt es diverse Überschneidungen. High-Need-Babys schreien in der Regel viel, vor allem wenn sie abgelegt werden oder überreizt sind. Im Gegensatz zu den Schreibabys existieren verschiedene Wege, High-Need-Babys zu beruhigen. Sie können sie von Reizen abschirmen, stillen oder tragen.
Ein Schreibaby hat oft eine Art Geburtstrauma oder sogenannte Koliken, die allerdings bis heute nicht auf den Kern erforscht sind. Es ist umstritten, ob es sich dabei wirklich um Bauchschmerzen handelt oder ob etwas anderes das Kleine quält. Schreibabys jedenfalls sind untröstlich. Egal, ob sie gestillt, herumgetragen oder gewiegt werden. Sie schreien und lassen sich nicht beruhigen. Hierin liegt der Hauptunterschied. Was allen Beteiligten hilft, egal in welche „Kategorie“ Ihr Baby fällt, ist eine bedürfnisorientierte Erziehung.
Bedürfnisorientierte Erziehung: Erleichterung für betroffene Eltern
Was ist eine bedürfnisorientierte Erziehung?
Auch der Begriff „bedürfnisorientiert“ wurde von Dr. Sears geprägt. Er geht davon aus, dass die Bedürfnisse von Babys stets gestillt werden sollten und dass diese im ersten Lebensjahr nicht verwöhnt werden könnten. Daher empfiehlt er gerade Mamas und Papas von High-Nees-Babys folgende Punkte, die im Alltag große Erleichterung bringen können:
- Stillen Sie Ihr Baby stets nach Bedarf, und zwar tagsüber und auch nachts
- Schlafen Sie nicht getrennt. Möchte Ihr Baby eng an Ihrem Körper schlafen, so lassen Sie es zu – unter Einhaltung von Sicherheitsmaßnahmen
- Geben Sie Ihrem Baby so viel Körperkontakt, wie es möchte
- Tragen Sie Ihren Liebling viel. Tragetuch oder Tragehilfe sind ideal.
Gerade fordernde kleine Menschen profitieren von einer bedürfnisorientierten Erziehung im Alltag und letzten Endes bringt diese auch Mama und Papa eine gewisse Erleichterung. Die ersten Jahre mit einem High-Need-Kind sind so kräftezehrend, dass es beispielsweise einfacher ist, Ihr Kleines bei sich schlafen zu lassen, als es auf Biegen und Brechen an ein eigenes Zimmer zu gewöhnen.
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Zeitgemäß und anschaulich erfahren Eltern hier alles, was sie brauchen, um einen artgerechten Erziehungsstil in ihrem Alltag umzusetzen. Die wichtigsten Bausteine sind eine möglichst natürliche Geburt, das Stillen und Füttern nach Bedarf und babygerechtes Tragen. Eine Sauberkeitserziehung, die die Signale des Kindes berücksichtigt, ist ebenso »artgerecht« wie der bindungsorientierte Blick auf das Einschlafen und ein enger Kontakt zur Natur. Dabei kann jede Familie einen individuellen Weg mit ihrem Baby finden. Es lohnt sich, findet Erfolgsautorin Nicola Schmidt: Jedes glückliche Kind macht die Welt zu einem besseren Ort!
High-Need-Baby: Hilfe und Tipps für betroffene Eltern
Die schlechte Nachricht ist, dass Ihr Kind wahrscheinlich niemals so „einfach“ sein wird wie der Nachwuchs der Nachbarin, das sich auch mal zwei Stunden allein beschäftigt. Ihr Baby wird erst spät durchschlafen, viel und oft stillen wollen, oft überreizt sein und eine konsequente, aber auch sehr geduldige und liebevolle Begleitung brauchen. Es wird seinen eigenen Kopf haben und seine Eltern sehr fordern.
Es gibt auch eine gute Nachricht, Eltern von High-Need-Babys werden belohnt. Ihr Kind wird in höchstem Maße empathisch und kreativ sein, einen starken Willen und zugleich einen ebenso starken Gerechtigkeitssinn entwickeln. Ihr Kleines wird Sie mit seinen klugen Äußerungen und seiner Anschmiegsamkeit ebenso überraschen wie mit seiner Beliebtheit. High-need-Babys sind mehr von allem – anstrengender, fordernder, aber auch kreativer, schlagfertiger und oft auch gerechter.
1. Holen Sie sich Unterstützung
Sind Sie sicher, ein High-Need-Baby zu haben, stellen Sie sich auf anstrengende Jahre ein. Holen Sie sich Unterstützung, wo immer es möglich ist. Lassen Sie den Haushalt auch mal liegen und kuscheln Sie viel und intensiv mit Ihrem Kind. Genießen Sie die Zeit, freuen Sie sich an jedem kleinen Fortschritt.
Für den Fall, daß Ihr Kleines gerade viel stillen möchte, legen Sie sich etwas zu Essen zurecht sowie Ihr Tablet oder ein Buch und nutzen Sie die Zeit für sich. Schlafen Sie, wann immer Ihr Schatz schläft. Die Nächte mit einem so fordernden Kleinkind sind sehr anstrengend.
2. Freie Hände durch Tragehilfe oder Tragetuch
Nutzen Sie ein Tragetuch oder eine Tragehilfe, damit Sie die Hände für sich oder auch für Ihre Geschwisterkinder frei haben. Sportliche Mamas müssen auch mit anstrengenden Babys nicht auf ihre Übungen verzichten. Kanga ist eine Sportart, die man mit Baby im Tuch ausüben kann. Finden Sie immer wieder solche kleinen Inseln für sich.
3. Beherzigen Sie folgende Ratschläge
Sie sind nicht schuld – Sie sind die besten Eltern
- Ihr Baby ist gut so, wie es ist. Es ist nicht falsch und es ist nicht krank.
- Geben Sie nichts auf das, was andere sagen.
- Lassen Sie sich nicht Ihre Gefühle absprechen.
- Manche Kinder sind anstrengender sind als andere.
- Es liegt nicht an Ihrer Erziehung und auch nicht an Ihrer inneren Haltung dazu.
- Vergessen Sie tunlichst den Satz „Entspannte Mama, entspanntes Baby“
- Sie sind nicht schuld! Sie sind die beste Mama – und der beste Papa – die Sie sein können.
High-Need-Kinder von allem mehr. Ihre Schwächen sind ausgeprägter als die anderer Kinder. Jedoch gilt das Gleiche auch für ihre Stärken. Und hat nicht jeder Mensch Stärken und Schwächen? Warum sollte das nicht auch für Ihr High-Need-Baby gelten?
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Marius Hornung
Gut formuliert und beschreibt sehr gut, was viele Eltern (unbewusst) durchmachen – teilweise auch ohne es nach außen hin eingestehen zu wollen. Unsere Tochter fällt ebenfalls in diese Kategorie und es ist einfach nur unfassbar zermürbend .. was nicht heißt, dass wir sie deswegen weniger lieben würden.
Anna
Endlich mal ein Artikel die alles gut erklärt und einem nicht das Gefühl gibt “schuld” an allem zu sein. Einige Punkte hier treffen auf unsere Tochter zu. Insbesondere das extreme Nähebedüfnis. Einschlafen geht auch nur durchs Tragen (wenn Einschlafstillen aus irgendeinem Grund nicht funktioniert hat) und oftmals will sie tagsüber nur in den Armen schlafen. Das geht seit 6,5 Monaten so und ich weine manchmal mehrmals die Woche, weil es so anstrengend ist aber vor allem weil ich Sorge habe, ich sei schuld und dass es ewig so bleiben wird und sie nicht lernen wird ohne getragen zu werden einzuschlafen. Aber Einschlafstraining mit Schreien lassen, auch kontrolliert, kommt für uns nicht in Frage.
Wird das irgendwann besser? Lernen babys irgendwann ohne getragen werden einzuschlafen?